Das Kino, sein Publikum und die Sehnsucht. Außerdem die Diversität der Identität und die Woche der Meinungsfreiheit – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 273. Folge
»One of my oldest crusades is against the distinction between thought and feeling, which is really the basis of all anti-intellectual views: the heart and the head, thinking and feeling, fantasy and judgment ... and I don’t believe it’s true. ... I have the impression that thinking is a form of feeling and that feeling is a form of thinking.«
Susan Sontag»Wir teilen das Urteil über die russische Aggression als Bruch der Grundnorm des Völkerrechts. Wir teilen auch die Überzeugung, dass es eine prinzipielle politisch-moralische Pflicht gibt, vor aggressiver Gewalt nicht ohne Gegenwehr zurückzuweichen. Doch alles, was sich daraus ableiten lässt, hat Grenzen in anderen Geboten der politischen Ethik.«
Offener Brief an Kanzler Olaf Scholz
Der gestrige 3. Mai war der Internationale Tag der Pressefreiheit. Besonders in unsicheren Zeiten haben alle Menschen das Recht auf sorgfältig recherchierte und unabhängige Nachrichten. Doch der Zugang zu unabhängiger Berichterstattung ist keineswegs selbstverständlich. Viele Medien bieten ihre Inhalte nicht vollständig online zugänglich.
Die ganze Woche vom 3. bis 10. Mai ist die Woche der Meinungsfreiheit. »Meinungsfreiheit ist mehr als meine Meinung« heißt es dazu treffend auf der Website der vom Börsenverein des deutschen Buchhandels initiierten Woche: »Debatte, Austausch, Argument und Gegenargument ... ein Bewusstsein schaffen und offen diskutieren.«
Im Kino kann man das bei RP Kahls Film Als Susan Sontag im Publikum saß erleben. Dies ist der Film zur Woche der Meinungsfreiheit. We too!
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»Wenn du deine Identität nur durch ein Feindbild aufrechterhalten kannst, dann ist deine Identität eine Krankheit.« – Dies sagte der von türkischen Rechtsradikalen ermordete armenisch-türkische Journalist Hrant Dink.
Auch so ein Satz triggert unser Interesse auf den Workshop »Identitätspolitik im Film« in Oberhausen. Wie überhaupt die Oberhausener Kurzfilmtage in der kommenden Woche endlich wieder in präpandemischer Normalität stattfinden.
Dazu gehört auch eine Reihe zu »Panafrica«. Dort wird Afrika nicht in seiner Vielfalt und Diversität auseinanderdifferenziert (wahrgenommen sehr wohl), sondern einfach zusammengefasst – mein Gott! Ist das erlaubt?
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Es ehrt die deutschen Filmschaffenden, dass sich stellvertretend für viele zumindest einige von ihnen – Alexander Kluge, Helke Sander, Edgar Selge, Gisela Marx, Andreas Dresen, Lars Eidinger – gegen den öffentlich vorherrschenden bellizistischen Ton wenden und friedliebendere Töne anschlagen.
Ich persönlich stimme dem Inhalt des Offenen Briefes an Bundeskanzler Olaf Scholz wie auch der öffentlichen Wortmeldung von Jürgen Habermas in der »Süddeutschen Zeitung«, und der Stoßrichtung von beidem, uneingeschränkt zu.
Aber auch unabhängig davon, ob man mit allem einverstanden ist, ist es bemerkenswert, dass hier endlich einmal Filmemacher in der ersten Reihe stehen. Dass Filmemacher und Schauspieler in Debatten auf Augenhöhe gefragt sind, und es nicht nur die üblichen Schriftsteller, Philosophen, Maler und Musiker sind, sondern dass Film als Kunst in Deutschland endlich einmal nicht weniger ernstgenommen wird als in anderen Ländern.
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Unter dem Titel »Misstrauen und Verheißung – Das deutsche Kino, sein Publikum und die Sehnsucht« moderiere ich in der kommenden Woche in Frankfurt beim Lichter Filmfest ein Panel mit den Regisseuren Nicolette Krebitz und Frédéric Jaeger sowie einem Überraschungsgast.
Zum Thema gehe ich von einem Gedanken von Christoph Hochhäusler aus und habe in der Ankündigung folgendes geschrieben: »'Das Besondere unserer Situation ist das Misstrauen des Publikums gegenüber den 'eigenen' Filmen', schrieb der Regisseur Christoph Hochhäusler kürzlich nüchtern in einem Blogeintrag – und löste damit eine kleine Debatte aus.
Diese wollen wir fortsetzen und fragen: Wieviel Vertrauen braucht der deutsche Film, wieviel Sehnsucht? Und wieviel Misstrauen sollte man dem Publikum entgegenbringen? Sind die Leute wirklich zu doof? Oder sind deutsche Regisseure vielleicht zu weinerlich und larmoyant?
Eine Debatte, die ins Herz der gegenwärtigen Lage sticht – und in der es weder um Corona noch um Filmförderung gegen soll, sondern um Ästhetik und das Verhältnis zwischen Machern und Publikum.
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Über die Lage der Kinos in Russland berichtet »Screen«. Die Sanktionen des Westens bedeuteten einen erheblichen Besucher-Einbruch für den größten europäischen Kinomarkt. Die Auswirkungen auf die benachbarten Märkte seien ebenfalls beträchtlich.
Nach dem Ende der Corona-Pandemie hatte sich Russland stärker erholt als jeder andere europäische Kinomarkt. 159,3 Millionen Besucher 2021 bedeuteten einen Anstieg von 63 Prozent gegenüber 2020. Damit lag die Russische Föderation deutlich vor Frankreich, dem zweitstärksten europäischen Markt, was auf die frühere Wiedereröffnung von Kinos und bemerkenswerte lokale Blockbuster zurückzuführen war.
Der Angriff auf die Ukraine führte zum Rücktritt von Oleg Berezin, dem Vorsitzenden des russischen Kinobesitzerverbandes. In einem langen Facebook-Post erklärte Berezin, seine Aufgabe, die Interessen der Mitglieder zu vertreten, sei angesichts der »Militäroperation auf dem Territorium der Ukraine, mit der ich nicht einverstanden bin und die ich aufs Schärfste verurteile«, unmöglich geworden. Er ist einer von vielen führenden Persönlichkeiten des russischen Kunst- und Kultursektors, die sich gegen das aussprechen, was die russische Regierung als »besondere Militäroperation« in der Ukraine bezeichnet.
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Jüngere Hollywood-Filme wie Licorice Pizza liefen noch eine Weile in den russischen Kinos, zumindest bis ihre KDM-Entschlüsselungscodes abliefen. Danach mussten sich die russischen Betreiber nach anderen Filmen umsehen.
Die Verantwortlichen der Kinoketten erklärten gegenüber der russischen Zeitung Vedomosti, dass sie neben älteren russischen Filmen auch Titel aus Südkorea, Lateinamerika und Indien ins Programm nehmen würden. »Früher standen die Leute Schlange, um Bollywood in den Kinos zu sehen, also gibt es ein Interesse an diesen Filmen«, wird eine Betreiberin zitiert.
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»Darum ist es okay, jetzt ins Kino zu gehen«, heißt es bei einer gemeinsamen Aktion von ARD/ZDF. »Fühlt ihr euch gut dabei, wenn ihr in diesen Zeiten etwas macht, das euch Spaß bringt? Bekommt ihr ein schlechtes Gewissen, wenn ihr einfach mal bei einem Film oder einer Serie abschalten könntet? In diesem Special gehen wir der Frage nach, ob es in Ordnung ist, ins Kino zu gehen, während die Welt viele große Probleme hat!«
Allein dass so eine Frage überhaupt gestellt wird, ist das Problem.
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Die Frage, was uns das Kino zum Krieg sagt, wird nicht damit beantwortet, dass wir jetzt plötzlich alle anfangen, die ukrainischen Filme anzugucken, die wir uns in den letzten 30 Jahren nicht angeguckt haben. Egal aus welchen Gründen. Auch amerikanisches, auch deutsches Kino hatte was zum Krieg zu sagen. Vielleicht nicht immer das, was wir hören wollen oder uns eingestehen wollen – aber es hat etwas zum Krieg zu sagen. Und sei es auch nur, wie ignorant wir einem möglichen Krieg bisher gegenübergestanden sind.
(to be continued)
Unter dem Titel »Cinema Moralia« sind hier in loser Folge Notizen zum Kino zu finden, aktuelle Beobachtungen, Kurzkritiken, Klatsch und Filmpolitik, sowie Hinweise. Eine Art Tagebuch eines Kinogehers.
- Cinema Moralia – Rüdiger Suchslands Tagebuch eines Kinogehers. Since 2007!
- »Komm' Kino, Du willst es doch auch!«
Nie gab es eine Epoche der Kinogeschichte, die humorloser war als die jetzige. Kinofilme nehmen sich heute allesamt viel zu ernst. Außerdem ein immer wieder aktuelles 'Lob der Verschwendung' – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 272. Folge