„Es wird nicht ohne Bitternis abgehen.“
Helge Braun, Kanzleramtschef, am 22. März 2020
„Die Leute haben die Schnauze voll.“
Volker Bouffier, Ministerpräsident von Hessen
„Nicht immer nur Bedenken vortragen. Man kann auch Lösungen vortragen.“
Boris Palmer
Krise macht Freude. Wenigstens einer gibt es zu. Auf die Frage von Markus Lanz „Macht Krise eigentlich Spaß?“ antwortet der frühere Innenminister Thomas de Maiziere: „Spaß nicht, aber Freude schon.“ Seie Begründung: „In der Krise zeigt sich, wer was kann. Die Krise sucht sich die mächtigen, nicht die Zuständigkeiten. Die Krise stärkt die Seriösen und nicht die Lauten. Und in der Krise ist Schluss mit Firlefanz und Inszenierung, denn da kommt es auf die Substanz an. Und wer es gerne macht, dem macht auch Krise Freude – auch wenn es natürlich unangenehm ist und hart und es um Leben und Tod geht.“
Ein lohnenswertes Gespräch am 23.Februar, in dem Lanz auch fehlende Tatkraft herausarbeitet. Klares Agieren funktioniert gerade gar nicht. Deutschland ist im Schneckentempo unterwegs, und von Freude und Motivation und Tatkraft ist nichts mehr zu spüren. Das Vertrauen der Bevölkerung in die Politik von Bund und Ländern schwindet zusehends.
Es ist ein kritischer Punkt erreicht, weil die Bevölkerung kurz davor steht, auf die Politik zu antworten, wie ein Neuköllner Kioskbesitzer der Polizei: „Was wollt ihr eigentlich?“
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Mit anderen Akzenten, aber ähnlicher Tendenz und noch schärfer argumentiert Nikolaus Blohme im Deutschlandfunk: „Weil Deutschland so konzipiert und verfasst ist, wie es ist, ist Deutschland sehr gut durch die erste Welle gekommen. Aber das war halt: Grober Keil auf grobem Klotz. Da waren wir ziemlich gut, und die Disziplin der Bevölkerung war absolut bemerkenswert. Als es je länger je mehr um Feintuning, um Digitalisierung und das Internet ging, zeigten sich immer deutlicher die Schwächen im Mindset, bei der Art zu denken, bei der Fähigkeit, flexibler zu denken, pragmatischer zu denken, nicht so 08/15-schematisch – diese Schwächen liegen, wenn man so will, ein bisschen auch in der Volkspsychologie. Oder in der Idee unseres Staates. Aber in der Digitalisierung liegt Deutschland Lichtjahre zurück …
Wenn man sich irgendetwas wünschen kann für die Zeit danach, dann würde ich mir wünschen, dass es eine Kommission gibt, die eine Art Kassensturz macht: Was ist technisch von der Digitalisierung und der Corona-App bis zur Ausrüstung der Schulen und der Fähigkeit der Lehrer schiefgelaufen? Es ist zu Tage getreten wie schief es läuft.
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Ein Jahr haben wir nun Corona. Vor einem Jahr ziemlich genau etwa am 1. März ist Corona in der deutschen Gesellschaft wirklich angekommen. Keine zwei Wochen später, ab dem 13. März ging es dann immer mehr in den Lockdown, den ersten, der am 22.März in Kraft trat. Damals sagte Anne Will noch, dass der Lockdown ja „gar kein richtiger“ sei. Heute würde sie das wohl nicht mehr so wiederholen.
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„Gering bis mäßig“. So nannte das RKI noch am 28 Februar 2020 das Risiko für die Bevölkerung in Deutschland durch Covid-19. Dann schon Mitte März galt das Risiko als „hoch“ und für Risikogruppen als „sehr hoch“. Und am 11. Dezember 2020 wurde die Gefährdung für die Bevölkerung insgesamt plötzlich als „sehr hoch“ eingeschätzt. Warum? Über solche Einschätzung kann man zumindest mit gutem Recht streiten. Immerhin ist es inzwischen allgemeine Ansicht, der selbst Karl Lauterbach zustimmt, dass alle Zahlen politische sind und es um Interpretation geht.
Darum kann man den schönen Satz des römischen Autors Juvenal, der um 100 n.Chr. fragte „Wer bewacht die Wächter?“, abwandeln, und fragen: Wer interpretiert die Interpreten?
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In Verhältnissen wie denen, in denen wir leben, in denen über 97 Prozent der deutschen Bevölkerung mit dem Virus noch nicht ein einziges Mal nachweisbar in Berührung gekommen sind (die Betonung liegt hier auf „nachweisbar“, denn es kann sehr wohl sein, dass ein paar Prozentanteile mehr mit dem Virus sehr wohl in Berührung kamen, nur dass diese Berührung eben komplett folgenlos und spurlos blieb, was – wenn es so sein sollte –, ja nur zu zusätzlichem Optimismus ermuntert) in solchen Verhältnissen, in denen die allermeisten Menschen jedenfalls von Corona bisher nichts zu befürchten hatten, klingen die gewählten Einschätzungsvokabeln schon ein bisschen wie Panikmache. Vielleicht eine wohlmeinende Panikmache, von wohlmeinenden Wächtern, um die Bewachten, die leicht überfordert und ein bisschen tapsig sind, ein bisschen zu unbekümmert, wie Kinder, um diese Bewachten noch ein bisschen besser schützen zu können.
„Über die Toten nichts Schlechtes“ sagt man gern. Aber auch über die Lebenden nichts Schlechtes, zumindest erstmal. Erstmal wollen wir wohlwollend davon ausgehen, dass alle es gut mit uns meinen. Auch Bundesinnenminister Horst Seehofer, wenn er die Grenzen schließen lassen will, auch Angela Merkel, wenn sie sich verbissen gegen jede Lockerung des Lockdowns sträubt.
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Schon vor drei Wochen kam heraus, dass das Bundesinnenministerium im März 2020 ein internes Papier erstellte, dass die Zahlen durch Corona absichtlich dramatisierte, um damit ein härteres politisches Vorgehen zu rechtfertigen. Dafür ließen sich auch Wissenschaftler einspannen.
Ganz offen schreibt der Innen-Staatssekretär Markus Kerber darin, es gehe darum, „Maßnahmen präventiver und repressiver Natur“ planen zu können. Von einer „gewünschten Schockwirkung“ ist im Papier ebenso die Rede, wie davon, in den Köpfen der Menschen Bilder entstehen zu lassen.
Die Opposition schäumt verständlicherweise. Der stellvertretende Bundesvorsitzende der FDP, Wolfgang Kubicki, sagte, das Ministerium habe Kommunikationswerkzeuge verwendet, die er „eher bei autoritären Staaten vermutet hätte“. Wer in der Bevölkerung Angst erzeugen wolle, um politische Maßnahmen besser durchsetzen zu können, lege „selbst die Axt an unsere demokratische Grundordnung. Es geht offensichtlich nicht mehr darum, mündigen Bürgerinnen und Bürgern evidenzbasiert und sachorientiert politische Entscheidungen zu erklären, sondern darum, diese Entscheidungen auf repressivem Wege durchzuprügeln.“
Aber sie haben es bestimmt nur gut gemeint.
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Eine bisher offene Frage, die aber unbedingt aufklärungsbedürftig ist, ist die, ob man für all das auch Medien eingespannt hat, und ob sich insbesondere die öffentlich-rechtlichen Medien dafür hergegeben haben. Schon damals konnte man kaum an einen Zufall glauben, als plötzlich in den Nachrichten überall die Bilder von „Bergamo“ in Endlosschleife liefen – obwohl dies letztendlich ein extremer Einzelfall war, was man schon sehr schnell recherchieren hätte können.
Das wäre gleichwohl ein handfester Skandal, denn von öffentlich-rechtlichen Medien als dem Mittlern zwischen den geheimen Räumen der Kabinette, den Laboren der Wissenschaftler, den Vorstandsetagen, den Kungelrunden der Parteien, und auf der anderen Seite den Bürgern, erwartet man erst recht das Einhalten hoher moralischer Maßstäbe.
Für die Annahme, dass leider auch die scheinbar so objektiven und unparteiischen Medien nicht ganz objektiv und nicht ganz so unparteiisch sind gibt es schon seit langem gute Gründe.
Gerade um dem Vorwurf von Anfang an zu begegnen, der gerne von der fraglos falschen Seite benutzt wird: Lügenpresse.
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Im Mai hat sich Deutschland noch als Corona-Weltmeister gesehen. Inzwischen aber ist es wie bei der letzten Fußball-WM in der Vorrunde ausgeschieden.
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Wir leben heute schon mit dem Virus. So wie wir mit anderen Gefahren leben. Wir müssen unbedingt aus dieser Angstspirale aussteigen, und uns unser Leben zurückerobern.
Aber wir sind nicht fähig zu flexibleren Lösungen.
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Am 5. April 2020 sprach Hendrik Streeck über die Schnelltests „quasi eine Eingangsvoraussetzung“. Am 13. August 2020 sprach auch Karl Lauterbach über Schnelltests: Das werde jetzt in England und Amerika zugelassen – bei uns aber soll erst am kommenden Mittwoch schnell eine Teststrategie zusammengeklopft werden.
„Sind wir Weltmeister im Verunmöglichen?“ fragt Maybrit Illner.
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Wir alle lernen dazu. Diese Aussage gehört zu den Binsenweisheiten der Gegenwart. Ich bin nicht so sicher wie ernst sie eigentlich von denen gemeint sind, wird die sie gerne im Mund führen. Oft ist der Satz „wir alle lernen dazu“ genauso wie der Satz dass „keiner schon eine Pandeme erlebt hat“, und dass „alle die im letzten Jahr gehandelt haben, Fehler machen“, oft genug sind solche Sätze einfach nur Ausreden und Entschuldigungen, gerade auch weil sie sachlich natürlich zutreffen. Sie dienen aber hier dazu, von Verantwortung abzulenken und Verantwortung nicht anzunehmen. Mit der Tatsache, dass keiner genau Bescheid weiß, könnte man nämlich auch ganz anders umgehen.
Mit Möglichkeitssinn und Pragmatismus. Wir brauchen mehr Pragmatismus. Pragmatismus ist etwas, das einem System mehr Widerstandskraft verleiht, weil immer unterschiedliche Lösungen möglich sind.
„Gesundheit ist da, wo Bildung, Wohlstand und Freiheit sind.“ sagte Rudolf Virchow. Boris Palmer konstatiert: „Diese drei Grundwerte werden durch die Lockdown-Maßnahmen schwer beschädigt. Wir werden uns noch wundern was das langfristig für uns bedeutet.“
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Es passiert viel. Eigentlich immer. Aber gerade zur Zeit wieder besonders. Das alles zu beschreiben und es inhaltlich seriös abzudecken, das ist gar nicht zu leisten, in einem Text einmal pro Woche. Darum auch diesmal nur Stichworte.
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Einer, der diesmal nicht fehlen darf, ist Jens Spahn. Immer noch unser Gesundheitsminister. Ich nehme an, auch beim Erscheinen dieses Textes. Obwohl er ganz schön gewackelt hat, letzte Woche und das nicht zum ersten Mal.
Denn nach der schlechte Impfstoffverteilung nervt auch die Großmäuligkeit mit der der Ankündigungsminister Schnelltests für alle am 1.März verspricht, und das nicht halten kann.
Shakuntala Banerjee vom ZDF sagt über Spahn, dass Merkel ihren Minister „beschädigt, wenn sie mehrfach in seinen Verantwortungsbereich hinein regiert. Ich glaube, unter normalen Umständen, und in normalen Zeiten würden tatsächlich sofort die Rufe laut nach einem Abtreten des Ministers. Jetzt haben wir aber keine normalen Zustände, und in dieser Situation hat sie auf der einen Seite die Wahl ihren Minister zu düpieren, und auf der anderen Seite die Wahl einen wirklichen Krach zu riskieren mit den Bundesländern und ihrem Koalitionspartner.“
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Hinzu kommt die Unverfrorenheit, mit der Spahn versucht, Presseberichte über den sehr teuren Kauf seiner Dahlemer Villa, der er derzeit mit seinem Lebensgefährten umbaut und dann beziehen wird, zu verhindern. Spahn ließ, so berichtet „Der „Tagesspiegel“, Journalisten ausforschen. Nicht nur die Opposition ist der Ansicht, dass ein Bundesminister die Pressefreiheit achten sollte.
„Der Tagesspiegel“ hatte den genauen paar Aufpreis der über 4 Millionen Euro teuren Villa genannt. Die Nennung des genauen Kaufpreises wurde dem Tagesspiegel vorläufig untersagt, dieses Urteil ist aber nicht rechtskräftig, und wird vom Verlag angefochten. Andere Zeitungen wie die Münchner AZ (am 25.08.2020) hatten den genauen Kaufpreis ebenfalls berichtet insofern ist die Sache längst in der Welt. Trotzdem werden wir sie nicht nennen, denn es geht hier nicht um Neid und auch nur in zweiter Linie um die Frage, woher ein Minister eigentlich so viel Geld hat, um in Berlin mehrere Wohnungen bzw. Häuser zu besitzen und die Frage, ob alles wirklich mit rechten Dingen zugegangen ist, wenn Jens Spahn lange Zeit genau in jener Sparkasse auf Leitungsebene gewirkt hat, von der er jetzt den Kredit erhielt.
Die entscheidende Frage ist tatsächlich aber die, ob Spahn Journalisten ausforschen lassen darf, die darüber berichten, und warum er es tut? Hat er etwas zu verbergen? Auf die Frage macht das tapsige Kabinettsmitglied durch sein Verhalten selber aufmerksam.
Es könnte sein, dass sich aus diesem zurzeit noch lokalen Schwelbrand doch so etwas wie eine bundesweite Affäre entwickelt.
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Anne Will – oder auch: Das Fähnchen im Wind der Öffentlich-Rechtlichen. Anne Will ist jetzt plötzlich auch ganz die Anwältin der Grundrechte. Sie sagt plötzlich über die Bundesregierung: „Interessantes Framing, denn in Wahrheit geht es ja um Wiederherstellung der Grundrechte.“
Plötzlich stehen alle Anzeichen auf Entspannung und „alles nicht so schlimm“. Ranga Yogeshwar erklärt, die Infektionen würden „im Wesentlichen von Superspreadern vorangetrieben.“
Ausgerechnet Anne Will wirft nun der Regierung Stimmungs-Politik vor: „Kann man allein die Stimmung als neuen Faktor nehmen?“
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Die Bundesregierung hat es auch nach einem Jahr nicht auf die Reihe gekriegt, dafür der von Armin Laschet eingesetzte „Expertenrat Corona“ der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen. Der hat bereits im Januar ein Papier mit den „Eckpfeilern einer Langfriststrategie für die Pandemie und darüber hinaus“ veröffentlicht. Darin wird die immer weitere Verschärfung des Lockdowns in Frage gestellt, und gezeigt, das die allgemeine präventive Strategie des Lockdowns „nicht ausreichend geholfen“ hat. Zudem werfen die Experten einen genaueren Blick auf die Lockdown-Folgen. Sie konstatieren: „Die Politik läuft Gefahr, die Bevölkerung als Ganzes nicht mehr zu erreichen und zu überzeugen.“ Und sie warnen nicht nur vor Corona-Leugnern und Querlenkern, sondern auch vor dem Extrem auf der anderen Seite: Den „Lockdown Fanatikern.“
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Am heutigen Montag nun legt der Expertenrat nach: In seiner fünften Stellungnahme gibt es drei konkrete Empfehlungen. Im Zentrum dieser Empfehlungen stehen neben der Ausweitung der Test-Kapazitäten und einer technologischen Plattform zur Nachverfolgung vor allem ein grundsätzlicher Strategiewechsel. Der sieht vor, sich nicht durch zeitliche Vorgaben selbst zu fesseln und keine Branchen abzugrenzen, sondern vielmehr nach verfügbaren Schutzkonzepten zu differenzieren.
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Es muss nicht immer Netflix sein. Der tolle (und sehr politische) britische Dokumentarfilmer Adam Curtis hat gerade im BBC-Fernsehen seinen neuen Sechs-Teiler „Can’t Get You out of My Head“, eine Emotionsgeschichte der Moderne, veröffentlicht. Der Charme dieses Regisseurs liegt unter anderem darin, dass er seine Filme aus politischen Gründen sofort frei ins Netz stellt. So auch diesen: Er steht ganz offiziell auf Youtube. Seine vergangenen Filme beschäftigen sich unter anderem mit den Themen Propaganda, USA im Nahen Osten, oder der Entwicklung der Öffentlichkeit in 20 Jahrhundert.